Jugend im 20. Jahrhundert – Jugendbewegungen
In agrarischen Gesellschaften mit wenig ausgeprägter Arbeitsteilung wurden die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen von der Elterngeneration vermittelt. Durch die zunehmende Industrialisierung und Technisierung reichte dies aber nicht mehr aus. Vielmehr sollten die Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Schule und der Berufsausbildung erworben werden. Dies bedeutete aber eine längere Freistellung der nachwachsenden Generation vom Arbeitsleben. Diesen Zuwachs an Freizeit nutzten die Jugendlichen zur Ausbildung einer eigenen Jugendkultur. Tonangebend waren hier zunächst Jugendliche mit einem bürgerlichen Hintergrund, die sich auf Fahrten und Wanderungen durch die Natur, wie sie der 1896 gegründete Wandervogel populär machte. An diese Formen knüpften bald auch Arbeiterjugendliche an. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich in Deutschland eine breit gefächerte Szene von an selbstorganisierten Fahrten teilnehmenden Jugendlichen, die in so genannten Bünden organisiert waren, die Bündische Jugend. Hier fanden seit den 1920er Jahren die sich als betont junge Bewegung gerierenden Nationalsozialisten und namentlich die Hitlerjugend Anknüpfungsmöglichkeiten, die die Symbolsprache und die Gemeinschaftsformen der bündischen Jugend übernahm und monopolisierte.
„Jugend“ als Ausdruck für Dynamik, Neuerung und den Willen, verkrustete oder entfremdete Formen der Kultur zu überwinden, wurden schon früh auch von der älteren Generation genutzt, so etwa in der 1896 gegründeten Kulturzeitschrift Jugend, die dem Jugendstil ihren Namen gab. Jugend und Jugendlichkeit wurde zu einem eigenen Wert – ganz im Gegensatz zu den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, als Berufsanfänger in ihren Zwanzigern, wie Stefan Zweig beschreibt, in ihrem Habitus und in Kleidung und Haartracht versuchten, möglichst erwachsen, gesetzt und erfahren zu erscheinen.
Die Wandervögel
Als Wandervogel wird eine 1896 in Steglitz bei Berlin entstandene Bewegung hauptsächlich von Schülern und Studenten bürgerlicher Herkunft bezeichnet, die in einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte und angeregt durch Ideale der Romantik sich von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds lösten, um in freier Natur eine eigene Lebensart zu entwickeln. Damit stellte der Wandervogel den Beginn der Jugendbewegung dar, die auch für Reformpädagogik, Freikörperkultur und Lebensreformbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse setzte. Ab 1904 bildeten sich über das ganze Deutsche Reich verbreitet verschiedene Wandervogel-Bünde, die sich 1913 zum Wandervogel e.V. mit 25.000 Mitgliedern zusammenschlossen. Erstmals war es mit dem Zusammenschluss nicht nur männlichen Gymnasiasten, sondern auch Mädchen und Volksschülern erlaubt, als Wandervogel den Lebensstil der Bewegung mit Wanderfahrten, Lagerleben, Volkstanz und -musik zu führen. Als „Feldwandervogel“ zogen 1914 Tausende Mitglieder in den Ersten Weltkrieg.
Nachdem sich 1922 der zwei Jahre zuvor in Wandervogel Deutscher Jugendbund umbenannte Zentralverband aufgelöst hatte, bestanden in den zwanziger Jahren zahlreiche Einzelverbände der Wandervogelbewegung mit rund 30.000 Mitgliedern, die teilweise eine betont völkische Gesinnung vertraten. Die zumeist von Teilen der bürgerlichen Jugend getragenen Einzelbünde wie der Jungdeutsche Bund, Altwandervogel, Jungwandervogel, Wandervogel Völkischer Bund oder der Nerother Wandervogel verband eine antibürgerliche Einstellung und Ablehnung gegenüber der Kultur der Weimarer Republik. Der von ihnen kritisierten Technisierung und Kommerzialisierung des Alltagslebens versuchten sie mit dem „Erlebnis der Einfachheit“ und einer bewusst zur Schau gestellter Naturverbundenheit zu begegnen. Zusammen mit anderen Kerngruppen der Bündischen Jugend schlossen sich verschiedene Wandervogelverbände 1926 zum „Bund der Wandervögel und Pfadfinder“ zusammen, der sich 1927 in Deutsche Freischar (DF) umbenannte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Bünde im Zuge der Gleichschaltung im Juni 1933 aufgelöst und in die Hitler-Jugend (HJ) überführt.
Die Zeit der Bündischen Jugend (1919-1933)
Der um 1923 aufgekommene Begriff „Bündische Jugend“ war eine Sammelbezeichnung für alle politisch unabhängigen und nicht konfessionellen Jugendbünde in der Weimarer Republik. Die größtenteils aus dem Bürgertum stammende Bündische Jugend versuchte als eigenständige Selbsterziehungsgemeinschaft, ihr Leben neben Elternhaus, Schule, Kirche und Beruf frei zu gestalten. Auf Wanderfahrten ins Grüne, in Lagern und auf Heimabenden suchten die Bünde mit ihren insgesamt etwa 50.000 organisierten Mitgliedern eine Rückbesinnung auf Heimat und Natur ohne Alkohol und Nikotin sowie ein Alltagsleben abseits der bürgerlichen Konsumgesellschaft.
Die Einzelbünde der Wandervogelbewegung bildeten den Hauptbestandteil der äußerst aktiven Bündischen Jugend. Ähnlich bedeutend war die in Deutscher Pfadfinderbund, Bund der Reichspfadfinder, Ringgemeinschaft deutscher Pfadfinder und Christliche Pfadfinderschaft gespaltene Pfadfinderbewegung. Anfang der zwanziger Jahre übernahmen zahlreiche Wandervogelbünde die Halstücher, Fahnen und Wimpel der uniformierten Pfadfinder. Wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten schloss sich die DF Ende März 1933 mit anderen Jugendorganisationen zum Großdeutschen Bund zusammen. Als einer der ersten Jugendverbände wurde dieser im Juni 1933 vom NS-Regime aufgelöst.
Literatur und Quellen:
John R. Gillis, Geschichte der Jugend. Tradition und Wandel im Verhältnis der Altersgruppen und Generationen in Europa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Aus dem Amerikanischen übertragen und herausgegeben von Ulrich Herrmann und Lutz Roth. Weinheim-Basel 1980.
Sigrid, Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und
Studentenschaft 1896-1920 (Edition Archiv der Deutschen Jugendbewegung 4), Köln 1988.
Archiv der Arbeiterbewegung in Deutschland, in: [http://www.arbeiterjugend.de].
Jugend! Deutschland 1918-1945, in [http://www.jugend1918-1945.de].
„Jugendbewegung“, „Wandervögel“, in: „Wikipedia“.
Wandervogel, in: [http://www.wandervogel.de].
Zitate:
Er ist der klar bewusste Feind der Ordnung, d. h. der Gesellschaft der Konventionen, des sozialen Lebens, des Gesetzes; seine Arbeitsscheu ist zum Hass gegen die Arbeit geworden, er ist völlig unfähig geworden, irgendwelche regelmäßige Arbeit zu tun, er ist beseelt vom bösen Willen.
Diese Halbstarken, die aus allen Kreisen der Gesellschaft kommen, bilden den Mob, sind eine furchtbare grauenerregende Macht, zumal in großstädtischen Leben, ein Schlamm, der immer mehr nach unten sinkt, und wenn das soziale Leben in ruhigen Gleisen fortfließt, sich am Boden der Gesellschaft festsetzt.
Der Pastor Clemens Schulz über die Jugend (1912)
Zitiert nach: Jörn Moch, Jugend und Gewalt. Sozialisationstheoretische Ansätze. Norderstedt 2002, S. 4.
Das Jünglingsalter reicht von der beginnenden Entwicklung der Zeugungskraft (Pubertät) bis zur Beendigung des Wachstums, also beim männlichen Geschlecht vom 16.-17. bis zum 23., beim weiblichen vom 14. bis zum 20. Jahr. Das Wachstum geht im Anfang dieses Lebensalters meist schnell vorwärts und macht, besonders wenn es zuvor nicht bedeutend vorgerückt war, einen neuen Schuß, bisweilen 10-16 cm in einem Jahre. Das Aufhören des Längswachstums tritt im 20.-30. Jahr ein. Die mittlere Größe beim männlichen Geschlecht beträgt dann 1,57-1,73m, beim weiblichen 1,46-1,62m, die Schwere etwa 55-65 kg. […] Gedächtnis, Verstand und Urteilskraft reifen mehr heran, besonders aber erlangt die produktive Einbildungskraft ein hohes Übergewicht.
Das Mannesalter zerfällt in das junge, reife und höhere. Das erstere beginnt mit beendigtem Wachstum, gegen das 24. Jahr. Alle körperlichen Systeme stehen zueinander in einem vollkommenen Verhältnis, Aufnahme der Stoffe der Außenwelt und Abgabe an dieselbe treten mehr ins Gleichgewicht; Das Wachstum in der Länge hört auf, dagegen nimmt der Körper mehr an Breite und Dicke zu. […] Mit dem 28.-36. Jahre tritt die eigentliche Höhe des Lebens ein und mit ihr das reife Mannesalter. Alle physischen und psychischen Verrichtungen gehen in dieser Periode mit voller Kraft vor sich.
Auszug aus der Begriffserklärung „Jugend“ im „Meyers großes Konversations-Lexikon“ (1904)
Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. Auflage. Erster Band. Leipzig-Wien 1904, S. 385.
Immer mehr dringt in der Gegenwart die Überzeugung durch daß eine der wichtigsten sozialen und nationalen Aufgaben Schutz und Pflege der unter ungünstigen Umständen aufwachsenden und leiblich wie seelisch gefährdeten unmündigen Jugend ist. Gesetzgebung und Verwaltung im Staat und Gemeinde (Waisenpflege, Fürsorge- und Zwangserziehung, Schulhygiene, Hilfsschulen, Schutz der Jugend gegen gewerbliche Ausbeutung etc.) begegnen sich auf diesem Gebiet mit immer regerer Vereinstätigkeit (Rettungshäuser, Ferienkolonien, Kinderheilstätten, Kinderhorte, Schülerreisen u. a.) und literarische Vertretung […].
Auszug aus der Begriffserklärung „Jugendfürsorge“ im „Meyers großes Konversations-Lexikon“ (1905)
Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. Auflage. Zehnter Band. Leipzig-Wien 1905, S. 352 f.
Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.
Charlie Chaplin
Warum bekommt der Mensch die Jugend in einem Alter, in dem er nichts davon hat?
George Bernard Shaw
Es kann nicht früh genug darauf hingewiesen werden, dass man die Kinder nur dann vernünftig erziehen kann, wenn man zuvor die Lehrer vernünftig erzieht.
Erich Kästner